Weder Heimat noch Freunde

Автор: Пользователь скрыл имя, 28 Марта 2012 в 16:23, реферат

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Nach dem mörderischen Brandanschlag auf Türken in Solingen ist die Stimmung im Land explosiv. Erstmals haben Ausländer nach rechtsextremistischem Terror massiv und massenhaft zurückgeschlagen. Bonn gerät international unter Druck. Mit einem neuen Ausländerrecht will die Union die Türken besser integrieren.

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In einigen Städten führen Sozialverbände das Training durch, in München zum Beispiel landen die schwierigsten Fälle bei der Arbeiterwohlfahrt: junge Männer bis 21 Jahre, ausschließlich aus Einwandererfamilien.

In einem Raum nahe dem Münchner Hauptbahnhof sitzen acht junge Männer aus türkischen, irakischen, serbischen und palästinensischen Familien. Einige von ihnen führt die Polizei als Intensivtäter, weil sie oft durch Diebstahl, Raub und Schlägereien aufgefallen sind. Ihre Opfer trugen Nasenbrüche davon, eines ist gestorben. Der Mitarbeiter der Arbeiterwohlfahrt, der das Antiaggressionstraining leitet, heißt Haci Erdogan, er liebt klare Ansagen: "Handys raus, ausschalten, auf dem Tisch liegen lassen."

Erdogan kennt das innere Wertegefüge seiner Klienten bestens, es lässt sich so umschreiben: Wenn du nicht zurückschlägst, sobald dich jemand blöd anmacht, bist du schwach. Echte Männer sind nicht schwach, sie verteidigen sich und ihre Familie bis aufs Blut. Wenn du nicht zurückschlägst, bist du entweder eine Frau, oder du bist schwul, in jedem Fall aber ein Verlierer, ein Opfer.

Und Opfer sind gefickt.

Es ist eine Gebrauchsanweisung für die Straße, wo man auf Probleme mit Waffen oder Muskeln reagiert. Das große Missverständnis liegt dabei in der Ehre, deren Verletzung als Anlass zum Zuschlagen genügt. Dieses Ehrverständnis wurde vor allem aus arabischen Ländern nach Deutschland importiert, wo das Kollektiv mehr zählt als der Einzelne und es für einen Mann zur Pflicht gehört, den Ruf seiner Familie intakt zu halten.

Ein guter Antiaggressionstrainer schafft es, den Ehrbegriff zu knacken. Das funktioniert am besten, wenn die Jungen sich öffnen - was niemand tut, wenn ihn Erdogan nicht dazu zwingt. Er baut sich vor einem auf, nennen wir ihn Ayhan.

"Ayhan, ist deine Mutter eine Hure?"

"Was? Nee."

"Wo ist deine Mutter jetzt, geht sie auf den Strich?"

"Nein."

"Sie geht nicht anschaffen? Was macht sie dann?"

"Putzfrau."

"Keine Hure? Bist du sicher?"

Einen anderen bittet Erdogan nach vorn an die Tafel und umarmt ihn unvermittelt. Dem dritten kommt er so nahe, dass sich die Nasenspitzen berühren.

Der Kurs dauert drei Monate, einmal die Woche treffen sie sich drei Stunden lang. Es kommen auch Rechtsanwälte und erläutern das Strafgesetzbuch. Wer nicht erscheint, geht in den Knast. "In drei Monaten können wir natürlich nicht ihre Welt verändern", sagt Erdogan. Es genüge aber, wenn die Jungs begreifen, dass sie nicht auf jede Provokation mit Gewalt reagieren müssen.

Aylin Selçuk ist in Deutschland geboren und aufgewachsen, genau wie Caglar Budakli, ihre Eltern stammen aus der Türkei. Sie lebt in Berlin, wie Budakli, doch ihr Berlin ist anders, freundlicher. Selçuk ist 22, hat das Abitur mit Bestnoten gemacht und studiert Zahnmedizin. Was sie mit Budakli verbindet, ist die Wut darüber, wie Deutschland mit den Nachkommen der Einwanderer umgeht.

Die angehende Zahnärztin sagt, sie wundere sich bei bestimmten Themen über die Arroganz der sogenannten Mehrheitsgesellschaft. Warum musste sie sich als Schülerin Fragen von Lehrern gefallen lassen, ob sie in den Sommerferien zwangsverheiratet werde, nur weil sie zu Oma und Opa in die Türkei fuhr? Warum will ihr jeder den Islam erklären? Warum sprechen die, die sich gern als die wahren Deutschen aufführen, in öffentlichen Debatten immer nur über die Einwandererkinder, nicht mit ihnen?

"Wir haben wie alle anderen das Recht, mitzureden und vor allem mitzugestalten", sagt Aylin Selçuk. Vor fünf Jahren, das Land diskutierte gerade über die Gewaltexzesse an der Rütli-Schule, schickte sie eine E-Mail an Freunde und Bekannte. Es sei zuerst nur ein vager Gedanke gewesen, ein Gefühl, dass etwas verkehrt laufe. "Mir fehlte eine Stimme, die für junge Migranten spricht", sagt sie.

Zum ersten Treffen kamen 70 Leute, und Aylin Selçuk, damals 18 Jahre alt, rief zu diesen 70: "Leute, wir gehören dazu, auch wir sind Kinder Deutschlands." Zusammen gründeten sie einen Verein, DeuKische Generation, der im Namen das zu verbinden versucht, was bislang vor allem als Problem gesehen wurde: Deutschtürke zu sein. Dem Verein geht es darum, der dritten Generation, die zwischen der Heimat ihrer Eltern und ihrem eigenen Geburtsland hin- und hergerissen ist, eine Identität zu geben. Halb deutsch, halb türkisch, deukisch also.

Deukisch ist gar nicht so übel, das ist die Botschaft von Aylin Selçuks Biografie. Ihre Eltern sind zwar nicht reich, bemühten sich aber darum, dass ihre Tochter die bestmögliche öffentliche Bildung genießen konnte. Nun setzt sich die Tochter dafür ein, dass sich für möglichst viele Einwandererkinder der Traum vom Aufstieg erfüllt. Der Verein stellt Schulen junge Mentoren zur Verfügung, die vermitteln sollen, dass man als Kind von Migranten erfolgreich sein kann. "Es gibt viele Kinder von Einwanderern, die sich in der Opferposition sehen und anfangen, sich hinter dieser Position zu verstecken", sagt Selçuk. Zähigkeit und Durchsetzungswillen müsse man lernen.

Es ist ein Plädoyer dafür, die jungen Männer und Frauen der zweiten und dritten Generation nicht an den Rand zu drücken, wo die Wut nur größer wird. Denn eines ist sicher: Sie werden nicht in die Heimat ihrer Eltern oder Großeltern zurückkehren. Sie sind ein Teil Deutschlands. Sie werden bleiben.


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