Weder Heimat noch Freunde

Автор: Пользователь скрыл имя, 28 Марта 2012 в 16:23, реферат

Краткое описание

Nach dem mörderischen Brandanschlag auf Türken in Solingen ist die Stimmung im Land explosiv. Erstmals haben Ausländer nach rechtsextremistischem Terror massiv und massenhaft zurückgeschlagen. Bonn gerät international unter Druck. Mit einem neuen Ausländerrecht will die Union die Türken besser integrieren.

Файлы: 1 файл

Spiegel.docx

— 46.15 Кб (Скачать)

Auch jahrelange Schufterei an Fließbändern und in Bergwerksstollen schützt einen Türken nicht davor, daß er am Ende noch von den Behörden in sein Heimatland zurückgeschickt werden kann.

Selbst in Deutschland geborene Jugendliche bekommen oft nur eine befristete Aufenthaltsgenehmigung - wenn sie zuvor durch ungesetzliches Verhalten aufgefallen sind, wofür etwa eine Schwarzfahrt mit der Bahn genügt. Wie sollen Jugendliche bei solcher Unsicherheit, fragt der Hamburger Ausländerrechts-Professor Helmut Rittstieg, "ein positives Verhältnis zur Gesellschaft entwickeln"?

"Das Grundübel der Politik liegt darin", so Rittstieg, "daß die Einwanderung geleugnet wird, während gleichzeitig Deutschland eines der Länder mit den höchsten Einwanderungszahlen ist." Die Politiker hätten stets nur von "Gastarbeitern", "Familienzusammenführung" oder "Umsiedlung" gesprochen - statt den Bürgern frühzeitig zu sagen, daß Einwanderung nötig sei und sich die alten Deutschen schlicht an die neuen Deutschen zu gewöhnen hätten.

Erwünscht seien Türken, so Politologe Leggewie, allenfalls als "Nutz- und Schutztürken", als "Arbeitskräfte, Autokäufer, Bausparer, Aldi-Kunden" sowie als Nato-Partner am südöstlichen Ende Europas.

Nun ventilieren Politiker eifrig die Idee der doppelten Staatsbürgerschaft. Sie soll es zum Beispiel den Türken ermöglichen, in Deutschland gleichberechtigte Bürger zu werden, ohne sich von ihrem türkischen Paß trennen zu müssen. Denn das empfinden viele Türken als Verrat an der Heimat, als Verlust der eigenen Identität.

Bei seinem Besuch in Ankara vor drei Wochen hatte Helmut Kohl angeregt, doppelte Staatsbürgerschaften für eine Übergangszeit von fünf Jahren zu erlauben. Danach müsse sich der Doppelbürger für einen Heimatstaat entscheiden.

Des Kanzlers Ideen müssen nicht gut sein, um Wirkung zu erzielen. Ignatz Bubis, Vorsitzender des Zentralrates der Juden in Deutschland, bekannte, er habe "vor Freude fast einen Luftsprung gemacht". Nun hätten die Befürworter der doppelten Staatsbürgerschaft "einen Fuß in der Tür".

Nach den Morden von Solingen kann Kohl schwerlich zurück, seiner Partei hat er nun die Erlaubnis zum Nachdenken gegeben - dabei wird wohl seine eigene Idee wegen juristischer Probleme unter den Tisch fallen. Kann etwa ein Deutscher auf Zeit ins Parlament gewählt oder Beamter werden? Und was, wenn er nach fünf Jahren doch Türke bleiben will? Kann oder muß ihm dann das Mandat entzogen werden?

Unionspolitiker haben sich aber nun ein Modell ausgedacht, das besonders auf Türken zugeschnitten ist: Viele von ihnen wollen ihren alten Paß nicht abgeben, weil sie als Nicht-Türken in ihrer Heimat kaum erben können, Haus und Grund mithin abschreiben müßten. Ein neuer Passus im Ausländergesetz könnte deshalb vorsehen, daß die doppelte Staatsbürgerschaft ausnahmsweise erhält, wer, so Horst Eylmann, CDU, Vorsitzender des Rechtsausschusses im Bundestag, "durch den Verlust seiner alten Staatsangehörigkeit finanzielle Härten erleidet".

Gleiche Rechte durch doppelte Staatsbürgerschaft würden auf jeden Fall die Unterschiede zwischen dunkel- und hellhäutigen Deutschen verringern. Und Haß nährt sich aus Unterschieden. "Eigentlich", fürchtet aber Türken-Aktivistin Arman-Kalcek, "ist es schon zu spät, um weitere Morde wie in Mölln oder Solingen zu verhindern."

Nur auf Dauer, mit Zeit und Mühe, könne sich der Haß überwinden lassen. Zuvor aber müsse den Deutschen klargemacht werden, daß sie schon längst in einer multikulturellen Gesellschaft leben und sich am besten damit abfinden: "Ihr werdet nie mehr unter euch sein."

Fremde Heimat

Von Gezer, Özlem; Popp, Maximilian; Scheuermann, Christoph

Vor 50 Jahren landeten die ersten türkischen Gastarbeiter in der Bundesrepublik. Sie haben wie andere Einwanderer Kinder und Enkel bekommen. Doch große Teile dieser jungen Generation tun sich schwer in Deutschland. Es fehlen Bildung, Identität und Perspektive.

Es hätte wieder so ein Schulterklopf-termin werden sollen. Maria Böhmer, die Integrationsbeauftragte der Bundesregierung, hatte am vergangenen Dienstag junge Leute ins Kanzleramt geladen, alle mit ausländischen Wurzeln. Es sollten heitere Bilder mit den Migranten werden, sie sollten die Geschichte von der erfolgreichen Integrationspolitik erzählen. Dann aber traten vier junge Männer und eine Frau auf die Bühne.

Sie hätten da eine Erklärung vorbereitet. "Nichts ist gut in Deutschland", das war die Botschaft der Erklärung.

Abwechselnd traten sie ans Mikrofon. Sie sind es leid, als Vorzeigemigranten nach Berlin geholt zu werden. Es sei gelogen, dass man in Deutschland nur fleißig sein müsse, um erfolgreich zu werden. Shalau Baban nahm das Mikro, 17 Jahre alt, irakischstämmig, er geht in Marburg zur Schule. "Ich habe einen guten Freund", sagte Shalau, "er heißt Adnan. Er war immer fleißig. Vor zwei Wochen ist er abgeschoben worden." Nichts sei gut in Deutschland, gar nichts.

Als die fünf von der Bühne gingen, war es still im Saal. Maria Böhmer lächelte nicht mehr. Ein paar Teenager hatten gerade ihre Integrations-Show zerstört. Hatten ihr und den versammelten Journalisten vorgeführt, wie sich ein ganzes Land seit Jahren selbst betrügt, wenn es um das Thema Integration geht, um die Kinder und Enkel der Einwanderer.

Denn viele dieser jungen Generation sind in diesem Land immer noch nicht angekommen. Deutschland ist ihre Heimat, doch etlichen ist die Heimat fremd geblieben. Auch wenn die Bundesregierung in dieser Woche den 50. Jahrestag des deutsch-türkischen Anwerbeabkommens mit einem Staatsakt begehen wird, sehen einige Kinder und Enkel der ersten Einwanderer wenig Grund zum Feiern.

Kanzlerin Angela Merkel wird versuchen, die Inszenierung aufrechtzuerhalten. Sie wird an diesem Mittwoch den türkischen Ministerpräsidenten Recep Tayyip Erdogan in Berlin empfangen, gemeinsam werden sie den ersten türkischen Gastarbeitern für ihre Verdienste für Deutschland danken. Bundesinnenminister Hans-Peter Friedrich (CSU) wird sprechen und auch die Integrationsbeauftragte Böhmer. Es wird sein wie immer bei diesem Thema: viele Worte, große Reden, womöglich irgendein Appell. Also nichts, was die Lage besser macht. Denn ein halbes Jahrhundert nachdem die Bundesrepublik zum Einwanderungsland geworden ist, tut sich die Gesellschaft schwer mit den nachfolgenden Generationen und mit der Frage, wie man das Wort Integration mit Leben füllen kann. Teile der jungen Generation scheinen dem Land verlorenzugehen.

Denn diese Generation ist nicht in Ankara, Palermo oder Priština aufgewachsen, sondern in Stuttgart, Braunschweig und Rostock. Und obwohl sie hier groß geworden ist, hat sie in Deutschland geringere Chancen auf ein erfolgreiches Leben als ihre Väter und Großväter, die erst als Erwachsene einreisten, um hier Arbeit oder Asyl zu finden.

Fast ein Drittel aller Frauen und Männer zwischen 25 und 35 mit Wurzeln im Ausland hat keinen Berufsabschluss. Bei den türkischen Zuwanderern, immerhin die mit rund drei Millionen größte Minderheit, sind die Daten besonders alarmierend. Der Anteil der jungen Türken, die keinen Abschluss haben, ist zwischen 2001 und 2006 von 44 Prozent auf 57 Prozent gestiegen. 57 Prozent - das große Scheitern beider Seiten lässt sich mit keiner anderen Zahl besser illustrieren.

Zugleich sagen höher Qualifizierte, die Deutschland dringend braucht, sie wollten so bald wie möglich weg. Bereits 2006 wanderten zum ersten Mal mehr Menschen in die Türkei aus, als nach Deutschland kamen. Auch das ist ein Indiz für das Versagen einer modernen Gesellschaft: Für viele Migranten ist die Bundesrepublik nicht attraktiv genug.

"Deutschland beginnt sich über Einwanderung Gedanken zu machen zu einem Zeitpunkt, da es längst Auswanderungsland geworden ist", sagt Klaus Bade, Vorsitzender des Sachverständigenrats deutscher Stiftungen für Integration und Migration. Das Scheitern von Kindern und Enkeln der Gastarbeiter, so Bade, sei "eine unnötige gesellschaftliche, wirtschaftliche und politische Katastrophe".

Denn zweifelsfrei ist das Land auf die Kinder der Einwanderer angewiesen, auf junge Leute wie Shalau Baban, dessen Familie einst aus dem Irak geflohen ist. Shalau wuchs in Marburg auf, er geht dort zur Schule und hat deutsche Freunde, aber auch er spricht von "den Deutschen" und "uns Ausländern". Die Rap-Songs, die er zusammen mit seinem Kumpel Daniel Fisher, 18, dichtet, sind wütende Antworten auf die Verlogenheit vieler Politiker, die über Migranten diskutieren und damit auch diese zwei Schüler zu Problemfällen machen, zu zwei Jungs, die nicht dazugehören.

In wenigen Jahren wird der Anteil der Zugewanderten bei den unter 40-Jährigen in vielen westdeutschen Großstädten bei über 50 Prozent liegen. Nach Voraussagen des Forschungsinstituts Prognos werden hierzulande im Jahr 2015 drei Millionen Arbeitskräfte fehlen. Die Kinder von Einwanderern könnten für die Wirtschaft ein willkommenes Reservoir global denkender, kulturell weit vernetzter Mitarbeiter sein - doch die Realität sieht in weiten Teilen anders aus.

2,3 Millionen Menschen zwischen 15 und 25 Jahren mit ausländischen Wurzeln leben in der Bundesrepublik, das ist jeder Vierte in dieser Altersgruppe. Viele kämpfen mit ähnlichen Problemen: Sie sind im Schnitt weniger gut ausgebildet als die Kinder deutscher Familien, sprechen schlechter Deutsch und kommen weniger gut im Kindergarten, in der Schule oder auf dem Arbeitsmarkt zurecht. Auf die Uni schaffen es viel zu wenige von ihnen.

2,3 Millionen: In einer idealen Welt wäre deren familiäre Herkunft aus dem Irak, aus Tunesien oder Kroatien ein Vorteil im Bewerbungsgespräch, kein Nachteil. In einer idealen Welt gäbe es mehr Manager, Richter, Ingenieure und Finanzbeamte türkischer, russischer oder iranischer Abstammung. Doch in der deutschen Wirklichkeit ist die Erwerbslosenquote der Migranten fast doppelt so hoch wie die der Deutschen. Das Einwanderungsland bildet sich in der öffentlichen Wahrnehmung vor allem in der Kriminal- und der Arbeitslosenstatistik ab.

Caglar Budakli ist in Berlin geboren, er ist 30 Jahre alt und hat einen deutschen Pass, seine Eltern stammen aus der Türkei. Er ist einer, der beinahe ganz abgeglitten wäre. Sein Vater kam in den siebziger Jahren aus Kars, einer Stadt an der türkisch-armenischen Grenze, nach Berlin-Kreuzberg. Er bezog mit seiner Familie eine Dreizimmerwohnung und nahm eine Stelle im Schichtdienst bei Siemens an. Wenn Caglars Vater abends von der Arbeit nach Hause kam, so erzählt es der Sohn, legte er sich schlafen, oder er war so betrunken, dass er im Rausch seine Ehefrau und die Kinder verprügelte. Caglars Eltern konnten ihrem Sohn nicht beibringen, wie er etwas in diesem Land erreichen kann, auch weil sie selbst mit den Folgen der Migration zu kämpfen hatten.

Kinder mit ausländischen Wurzeln, die in Deutschland geboren sind, fallen ungleich häufiger durch Verhaltensstörungen auf als ihre deutschen Altersgenossen, hat die Bundespsychotherapeutenkammer festgestellt.

Laut eines Forschungsberichts des Bundesamts für Migration und Flüchtlinge haben vier von fünf Türken zwischen 38 und 64 Jahren in Deutschland maximal einen Hauptschulabschluss, nur etwas mehr als ein Viertel besuchte höchstens fünf Jahre lang die Schule.

Und selbst gutausgebildete Migranten tun sich danach am Arbeitsmarkt schwer. So sind nach Berechnungen des Statistischen Landesamts Nordrhein-Westfalen 9,1 Prozent der Abiturienten mit zugewanderten Eltern arbeitslos, bei den Deutschen jedoch nur 2,6 Prozent.

Gleichzeitig reagieren Eltern feinfühliger auf eine Erhöhung der Migrantenquote an den Schulen ihrer Kinder. Das Klassenzimmer ist zum umkämpften Ort geworden. Viele Väter oder Mütter fahren ihre Kinder lieber kilometerweit im Auto durch die Stadt, als sie in Schulen mit einem hohen Migrantenanteil unterrichten zu lassen. Zurück bleiben in den Klassenzimmern die Töchter und Söhne bildungsferner Familien. In internationalen Studien, die Bildungschancen von Kindern mit und ohne Zuwanderungsgeschichte vergleichen, liegt Deutschland regelmäßig weit hinten.

Caglar Budakli läuft durch die Straßen von Kreuzberg, vorbei an Dönerläden und Friseursalons. Junge Männer begrüßen ihn mit Handschlag, Türken, Libanesen, Albaner. Budakli ist immer noch eine Größe im Kiez. Als Elfjähriger trat er in Berlin den "Crazy Kick Brothers" bei, verbrachte die Tage auf der Straße, sprühte Graffiti und brach in Lebensmittelläden ein. In die Schule ging er immer seltener, auch weil ihn die Lehrer demütigten, so empfand er es jedenfalls. Mit 15 wurde er wegen Erpressung und Diebstahls festgenommen. Sechsmal musste er die Schule wechseln, bis sich in Kreuzberg kein Schulleiter mehr fand, der bereit war, ihn aufzunehmen.

Die Angst der Mittelschicht vor dem Abstieg durch die Nähe zu Zuwandererkreisen wird nicht nur in den Schulen deutlich, sondern in ganzen Stadtteilen. Sozialforscher stellen fest, dass die Spaltung deutscher Städte in sozial und ethnisch getrennte Viertel voranschreitet. Wie eine Gegend verkümmern kann, wenn die Wohlhabenden und Gebildeten abwandern, lässt sich beispielhaft am Duisburger Stadtteil Hochfeld schildern.

Der Sozial- und Religionswissenschaftler Rauf Ceylan ist in dem Viertel aufgewachsen und hat rekonstruiert, wie in den sechziger Jahren die große Flucht aus Hochfeld begann. Die Mittelschicht, die sich dort während des Stahlbooms angesiedelt hatte, zog in ruhigere Teile der Stadt. Die Mieten sanken, wodurch die Wohnungen für Gastarbeiter aus Italien, Spanien, Griechenland und der Türkei bezahlbar wurden. Als mit dem Sterben der Zechen die Stahlindustrie in Duisburg zusammenbrach, wuchs die Arbeitslosenquote auch in Hochfeld. Anfang der Neunziger kamen Kriegsflüchtlinge und Spätaussiedler hinzu, und allmählich sei der Stadtteil vom Arbeiter- zum Arbeitslosenviertel geworden, schildert Ceylan.

Er befasst sich seit Jahren mit Ghettos in Deutschland, er nennt sie "ethnische Kolonien". Ceylan sagt, Einwandererkolonien seien lebenswichtig für die Neuankömmlinge, weil sie den Kulturschock dämpften, auch Deutsche in New York und Tokio bildeten Kolonien. Andererseits führe die langjährige Abkapselung dazu, dass Migranten den Kontakt zum Rest der Gesellschaft verlören. Genau das geschehe in Hochfeld und an vielen anderen Orten der Republik.

Als Ceylan für seine Dissertation Interviews führte, nahm ihn ein türkischer Spielhallenbetreiber zur Seite und sagte: "Ich garantiere dir, in zehn, zwölf Jahren werden wir im Stadtteil nach Deutschen suchen und uns fragen: Deutsche - was sind das überhaupt für Leute?"

Ein kleiner Teil der jungen Migrantengeneration hat sich damit abgefunden, in Deutschland nur Ruhestörer zu sein. Es sind die Verlorenen im doppelten Sinne. Ihr Geburtsland weiß nichts mit ihnen anzufangen. Und sie selbst fühlen sich verstoßen und ausgegrenzt. Einige haben einen riskanten Weg gefunden, mit dem Neid und der Empfindung, unerwünscht zu sein, umzugehen: Sie kultivieren ihre Abneigung gegen eine Mehrheit, die ihnen wie Unterdrücker erscheint.

Manche dieser Wutkinder entdecken die Religion, die ihnen Geborgenheit, Orientierung und eine verführerische Gelegenheit bietet, sich von der Mehrheit abzugrenzen. Auch Abgrenzung ist eine Möglichkeit, die Identität zu formen. Nach einer Umfrage des Essener Zentrums für Türkeistudien von 2005 bezeichneten sich 80 Prozent der türkischstämmigen Muslime zwischen 18 und 29 Jahren als "eher" oder "sehr religiös"; fünf Jahre zuvor waren es nur 64 Prozent.

Wer nach Zugehörigkeit, Sinn und Vergeltung sucht, ist anfällig für die Einflüsterungen von radikalen Predigern. Attila Selek, Sohn türkischer Einwanderer, wurde als Mitglied der Sauerlandgruppe verhaftet, die einen Terroranschlag vorbereitete; Rami Makanesi, Sohn eines syrischen Einwanderers, in Frankfurt am Main geboren, reiste nach Pakistan, um im Dschihad sein Leben zu lassen; Ahmad Sidiqi, der Anfang der Neunziger mit seinem Bruder aus Afghanistan nach Hamburg gekommen war, wollte ebenfalls als Märtyrer enden.

Die verstorbene Berliner Jugendrichterin Kirsten Heisig schrieb in ihrem im Juli 2010 erschienenen Buch "Das Ende der Geduld", dass sich in bestimmten sozialen Brennpunkten "inländerfeindliches" Gedankengut finde, das langfristig "in Rassismus gegenüber den nichtmigrantischen Bevölkerungsteilen ausarten kann". Allerdings lässt sich bis heute nicht nachweisen, ob so etwas wie Deutschenfeindlichkeit zunimmt und überhaupt flächendeckend existiert. Statistiken dafür gibt es nicht, und die Zahl der Fälle mit erkennbar deutschenfeindlichem Hintergrund ist recht überschaubar.

Die Reflexe der Politik auf solche Phänomene sind von eher schlichter Art. Der zuständige Innenminister Friedrich versteht Migration vor allem als sicherheitspolitisches Risiko für das Land. Mitarbeiter aus seinem Haus berichten, ihr Chef müsse zu Terminen mit Zuwanderern regelrecht geschleppt werden.

Friedrichs Chefin wiederum, Kanzlerin Angela Merkel, ist Integrationspolitik nicht wichtig. Dabei könnte der Staat nicht nur Milliarden für Arbeitslosen- und Sozialhilfe sparen, wenn die junge Generation endlich besser gefördert würde; er könnte sogar Geld einnehmen.

Das Institut der deutschen Wirtschaft hat detailliert vorgerechnet, wie groß das Potential der Zuwanderernachkommen ist. Die Zahlen liegen der Regierung seit anderthalb Jahren vor. So würde ein 18-Jähriger, der eine Nachqualifizierung bezahlt bekommt und in der Berufsausbildung gefördert wird, dem öffentlichen Haushalt ab seinem 24. Lebensjahr bis zur Rente jährlich mehr als 4000 Euro einbringen, durch Steuern, Sozialabgaben und vermiedene Kosten für Arbeitslosigkeit. Würden die bislang unterqualifizierten Einwandererkinder auf das Bildungsniveau der restlichen Bevölkerung gebracht, könne der Ertrag bis 2050 auf bis zu 66 Milliarden Euro steigen.

Für einen Moment sah es im vorigen Jahr aus, als habe sich Familienministerin Kristina Schröder dem Problem verschrieben. Auf dem Höhepunkt der Sarrazin-Debatte befand die Christdemokratin, der Hass mancher Migranten gegen Deutsche sei ein Phänomen, das die Politik genauso ernst nehmen müsse wie Rechtsextremismus und Antisemitismus. Als Schröder die Formulierung vom "Rassismus gegen Deutsche" gebrauchte, klang es, als würde ein Kulturkampf bevorstehen. Kritiker warfen ihr Populismus vor, Unterstützer sagten, endlich wage jemand, die Wahrheit auszusprechen. Immerhin hatte die Ministerin nun die Gelegenheit, ein Thema zu besetzen, das ihre Kollegen mieden. Sie konnte zeigen, dass sie Lösungen sucht, schließlich fällt Jugend in ihre Zuständigkeit.

Ein Gespräch mit Kristina Schröder in ihrem Büro an der Berliner Glinkastraße beginnt zunächst mit einem Monolog über Mutterschutz und die Frauenquote. Auf die Frage, was aus dem von ihr so vehement kritisierten Deutschenhass geworden sei und wer sich in ihrem Haus um dieses Thema kümmere, entfährt ihr zunächst ein gedehntes "Nun ja". Sie habe einen Jungen-Beirat gegründet, sagt die 34-Jährige, darin sitze neben einem Mitglied der freiwilligen Feuerwehr auch ein Migrant. Und sonst? Keine Initiative, keine Studie, nichts. Auf die Frage, worauf ihre Erkenntnisse über das Verhalten der Zuwanderer beruhten, sagt Schröder, sie habe da "etwas im Gefühl".

Jede Debatte über Leitkultur und Deutschenhass, jedes Pauschalurteil über kriminelle Ausländer vergrößert den Graben zwischen den Deutschen und den Einwandererkindern. Shalau Baban aus Marburg hält gleich das komplette politische Personal für unfähig und verlogen, und Caglar Budakli aus Berlin ruft immer noch laut zu allen, die er für wirkliche, echte Deutsche hält: "Fick Sarrazin!"

Sie haben nicht das Gefühl, dass sie dazugehören, deshalb bleibt ihnen nur, sich auf eigene Faust durchzuschlagen. Budakli begann eine Ausbildung zum Staplerfahrer, arbeitete auf dem Bau und in Dönerbuden, belegte einen Computerkurs und schleppte Kisten am Großmarkt. Seit einiger Zeit gibt er in einem Berliner Jugendzentrum Jugendlichen Breakdance-Unterricht, und es sieht aus, als hätte er, mit 30 Jahren, endlich seinen Platz in der Gesellschaft gefunden. Shalau Baban hat sich von der Hauptschule hochgekämpft, obwohl seine Lehrer immer skeptisch waren. Er hat noch ein Jahr bis zum Abitur, am liebsten würde er später Pilot werden. Budakli und Baban sind ihren Träumen ein Stück nähergekommen, nicht weil sie von Einwanderern abstammen, sondern obwohl sie von Einwanderern abstammen. Manchen fehlt diese Zähigkeit.

Deutschland braucht einen Masterplan, um das Abgleiten von Teilen dieser Generation zu verhindern. Die Bundesrepublik muss eine zweite deutsche Einheit bewältigen: die Vereinigung von Bürgern deutscher und ausländischer Herkunft.

Doch bis dahin ist es noch ein weiter Weg. Die Kinder und Enkel der Gastarbeiter machen seltener das Abitur als Gleichaltrige aus deutschstämmigen Familien. Das deutsche Schulsystem sei kaum in der Lage, soziale Unterschiede auszugleichen, schreiben Aladin El-Mafaalani und Ahmet Toprak in ihrer Studie "Muslimische Kinder und Jugendliche in Deutschland" für die Konrad-Adenauer-Stiftung. Viele Jugendliche fühlten sich unwohl, weil sich die Regeln in der Familie von denen in der Schule grundlegend unterschieden: "In der Familie wird Gehorsam, Kollektivität und Loyalität gegenüber den traditionellen Werten erwartet, in der Schule Selbstdisziplin, Individualität und Selbständigkeit." Auch deshalb verlässt die junge Generation die Schule zu früh und oft frustriert.

Wie sich das ändern ließe, kann man in Berlin-Neukölln beobachten. 2006 hatten die Lehrer der Neuköllner Rütli-Schule in einem Brandbrief an die Schulbehörde über eingetretene Klassentüren, heruntergerissene Bilder und Knallkörper, über Aggressivität, Ignoranz und Respektlosigkeit geklagt. Cordula Heckmann arbeitete damals an der benachbarten Realschule. Seit zwei Jahren leitet sie die Rütli-Schule und hat erreicht, was viele für unmöglich hielten: Sie hat geholfen, die Chaosschule zu einer Modellschule umzubauen, in den 47 000 Quadratmeter großen "Campus Rütli".

Noch immer stammen knapp 90 Prozent der Rütli-Schüler von Einwanderern ab; noch immer sind 80 Prozent der Kinder "lernmittelbefreit", das heißt, dass mindestens ein Elternteil von Hartz IV lebt. Doch inzwischen ist die Schule zum Hoffnungsort geworden, in dem es möglich ist, als Außenseiter in der Gesellschaft emporzusteigen. Auf dem Campus spielen die Kinder Schach, sie tanzen, trommeln, bekommen kostenlos Nachhilfe und lernen Arabisch oder Türkisch.

Kritiker nennen das Projekt einen "Kuschelkurs de luxe" - zu viele Stiftungen, zu viel Geld, nicht übertragbar auf andere Städte und Stadtviertel. Doch das Wichtigste, das Schulleiterin Cordula Heckmann erreicht hat, kostet kein Geld, allenfalls Zeit, Kraft und Geduld.

Es begann mit T-Shirts und der Kampagne "Du bist Rütli". Die Schüler sollen lernen, dass eine Schule nicht aus Beton, sondern aus Menschen besteht. Sie müssen begreifen, was Verantwortung und Respekt bedeuten. Wenn Heckmann über die Flure läuft, ziehen Schüler ihre Mützen ab und nehmen ruckartig die Füße von den Sitzbänken. Wenn sich einer von ihnen schlecht benimmt, sitzt er spätestens am nächsten Tag in Heckmanns Büro. Sie erinnert den Übeltäter dann an die Ehre der Familie, seiner Landsleute und auch an die Verantwortung seiner Schule gegenüber. Sie sagt bisweilen, dass die Tat eine Schande gewesen sei.

Ehre, Schande, Verantwortung. Es klingt simpel und durchschaubar, aber Cordula Heckmann hat es geschafft, dass sich die Schüler an ihrer Schule ernst genommen fühlen, weil sie deren Sprache spricht. Viele Jugendliche im Berliner Reuter-Kiez reden von Rütli wie von ihrer ersten großen Liebe. Sie identifizieren sich mit ihrer Schule und kämpfen sogar dafür, weil Rütli nicht mehr für Unterschicht steht, sondern dafür, dass derjenige respektiert wird, der sich anstrengt, egal woher seine Eltern stammen. Rütli ist eine Marke geworden. "Hier bekommst du keinen Migrantenstempel aufgedrückt", sagt eine Schülerin.

Vor allem die Mädchen müssten gefördert werden, sagt die Schulleiterin, denn die Mädchen ziehen später die nächste Generation groß. Wenn aus den Mädchen starke Frauen werden, hätten auch deren Söhne bessere Chancen, nicht wie ihre Väter zu werden: zu Patriarchen. Auf dem Campus Rütli gibt es Mädchengruppen, Mädchenfußball und Aufklärungsunterricht speziell für Mädchen.

Was auch getan wird, um den sozialen Aufstieg zu erleichtern, immer gilt der Grundsatz: je früher, desto besser. Zwar besuchen 84 Prozent aller Kinder aus Migrantenfamilien einen Kindergarten, allerdings selten länger als ein Jahr und damit viel zu kurz, wie der Sachverständigenrat deutscher Stiftungen für Integration und Migration kritisiert. Die Zahl der Krippenplätze ist vielerorts zu niedrig, oft sind auch die Erzieherinnen nicht qualifiziert genug, es gibt keine Sprachförderung, und die Deutschtests sind von allzu unterschiedlicher Qualität. Die Kinder beginnen deshalb oft bei null, wenn sie auf die Grundschule kommen.

Doch solange eine frühe Sprachförderung von der Gnade des richtigen Wohnorts abhängt, solange Kinder weder gutes Deutsch noch gutes Türkisch sprechen, muss an den Folgen kuriert werden. In den schlimmsten Fällen verordnen Richter jungen Gewalttätern Antiaggressionskurse, um dem Delinquenten klarzumachen, dass er seinen Frust nicht mittels Tritten und Schlägen Luft machen muss.

Информация о работе Weder Heimat noch Freunde