Weder Heimat noch Freunde

Автор: Пользователь скрыл имя, 28 Марта 2012 в 16:23, реферат

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Nach dem mörderischen Brandanschlag auf Türken in Solingen ist die Stimmung im Land explosiv. Erstmals haben Ausländer nach rechtsextremistischem Terror massiv und massenhaft zurückgeschlagen. Bonn gerät international unter Druck. Mit einem neuen Ausländerrecht will die Union die Türken besser integrieren.

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Weder Heimat noch Freunde

Nach dem mörderischen Brandanschlag auf Türken in Solingen ist die Stimmung im Land explosiv. Erstmals haben Ausländer nach rechtsextremistischem Terror massiv und massenhaft zurückgeschlagen. Bonn gerät international unter Druck. Mit einem neuen Ausländerrecht will die Union die Türken besser integrieren.

Unter den Platanen am Kreuzberger Mariannenplatz schaukeln deutsche und türkische Frauen ihre Kinderwagen. Männer sonnen sich, unter dem Gekläff schwarzer Straßenhunde tollen Kinder auf dem Rasen. Ihr größter Hit zur Zeit: die neuen Glasmurmeln, die Nigar Yeniöz in ihrem winzigen Laden für zehn Pfennig das Stück verkauft.

Wer nicht Murmeln, Patchwork-Decken oder Röcke kaufen will, schaut auf ein Schwätzchen hinein. Immer wieder kommen junge Landsleute, um der Türkin Nigar Yeniöz, 49, die Hand zu küssen, ein alter Brauch am zweiten Tag des sogenannten Opferfestes. Eigentlich sei das ein Tag der Freude, sagt die Moslemin Yeniöz, "wie Weihnachten bei den Christen".

Am Donnerstag vergangener Woche war es anders. "Angst", so Yeniöz, habe sie "nie gelernt". Nun aber, "seit Solingen", mustert sie die Menschen morgens, wenn sie am Berliner Landwehrkanal entlang zu ihrem Laden geht: "Ich schaue jedem ins Gesicht", sagt sie, "und denke, ob der auch ein Mörder sein könnte." Als sie von den Morden in der nordrheinwestfälischen Stadt erfuhr, sagt sie, "wurde mir kalt".

In der Nacht zum Pfingstsamstag hatten, so mutmaßten Ermittler, der Ausländerhasser Christian, 16, und einige Kumpane das Haus der Familie Genc angezündet. In den Flammen starben zwei Frauen und drei Mädchen: Gürsün Ince, 27, Hatice Genc, 18, Gülistan Öztürk, 12, Hülya Genc, 9, und Saime Genc, 4. Wie gelähmt sitzt Nigar Yeniöz seither abends vor dem Fernseher, starrt auf die Bilder von der Ruine des Genc-Hauses, von den Politikern, die Betroffenheit bekunden, und den Krawallen.

Erstmals reagieren Ausländer auf rechte Gewalt mit massiver, massenhafter Gegengewalt. "Aus Wut wird Widerstand", kündigen sie auf Transparenten an. Rund 400 Türken stürmen in der Nacht zum Pfingstmontag durch Solingen.

An den folgenden Tagen prügeln sich linke Kurden mit rechten türkischen Nationalisten, und beide attackieren die Polizei. Deutsche Autonome mischen mit, Schaufenster splittern, der Sachschaden beträgt mehrere Millionen Mark.

Auch in anderen Städten wie Hamburg oder Bremen fliegen Pflastersteine. Wieder hat sich, wie nach dem Brandanschlag von Mölln vor gut sechs Monaten, die Republik verändert. Mit Lichterketten wollten damals Millionen Deutsche sich und der Welt beweisen, daß rechtsextremer Haß im neuen Deutschland keine Chance hat. Und sie schafften es tatsächlich, das Klima vorübergehend zu wenden.

Doch nun ist es wieder eiskalt geworden im Land. Lichterketten, das ist seit Solingen klar, werden niemanden mehr wärmen. Nach dem nächsten Anschlag auf Einwanderer, so ist zu befürchten, könnten die Deutschen Bilder sehen wie bei Rassenkrawallen in Los Angeles oder Chicago: Krieg im eigenen Land.

Nigar Yeniöz begreift nicht, wie es zu diesem Mord und dem Haß dahinter kommen konnte: "Ihr Deutschen habt teuer für eure Nazi-Vergangenheit bezahlt, aber warum lernt ihr nichts? Warum duldet ihr die Rechtsradikalen?"

Der Brandanschlag von Mölln, bei dem die Türkinnen Bahide Arslan, 51, Ayse Yilmaz, 14, und Yeliz Arslan, 10, getötet wurden, war schon fast verdrängt, als grausiger und singulärer Exzeß  abgetan.

Doch der fünffache Mord von Solingen zeigt, daß  es jederzeit ein Mölln geben kann und womöglich auch geben wird: Die Türken, so ein Hamburger Skinhead, sind neben den Asylbewerbern "die Haß-Nummer eins", Zielscheibe für Ausländerfeinde, Projektionsfläche für dumpfe Vorurteile gegen alles Fremde.

"Ich behaupte", sagt Professor Faruk Sen, Leiter des Zentrums für Türkeistudien der Universität Essen, "daß  die Fremdenfeindlichkeit in Deutschland eine Türkenfeindlichkeit ist, weil sich die Aggressionen in erster Linie gegen Andersaussehende richten."

Ihre Kultur, ihre islamische Religion, ihre Gebräuche stempeln sie zu Ikonen des Fremden - sie sind die perfekten anderen. Und nicht nur für wenige rechtsradikale Gewalttäter geben sie das ideale Feindbild her; ständig sind sie Objekt alltäglicher Gewalt, leiden sie unter Pöbeleien, Demütigungen und scheelen Blicken.

Auch "bei den deutschen Institutionen", klagt Sen, gelten die Türken "als die ausländische Bevölkerungsgruppe, die am schwersten zu integrieren ist". _(* Aufmarsch der Neonazi-Gruppierung ) _(Freiheitliche Deutsche Arbeiterpartei ) _((FAP) am 1. Mai in Berlin. )

Mit über 1,8 Millionen Menschen stellen die Türken die größte Gruppe unter den insgesamt rund 6,5 Millionen Ausländern in Deutschland. Jeder haßerfüllte Irre findet leicht ein türkisches Opfer in seiner Nachbarschaft - wie die Attentäter von Solingen und Mölln.

Und türkische Jugendliche, oft schon in Deutschland geboren, konkurrieren scharf mit jungen Deutschen um Ausbildungsplätze, Arbeit und Wohnungen. Leicht findet da Haß einen Anlaß, einen Sündenbock für die oft miserable wirtschaftliche und soziale Lage jugendlicher Rechtsextremer.

Vor allem aber sind die deutschen Türken das Paradebeispiel einer mißlungenen, weil nicht gewollten Integration. Sie blieben fremd bis heute, obwohl sie seit über 30 Jahren in Deutschland leben und viele längst keine andere Heimat mehr kennen. Wirtschaftlich sind Türken aus Deutschland nicht mehr wegzudenken, gesellschaftlich und politisch aber sind sie Parias.

Nun versuchen Politiker jeder Couleur eilends nachzuholen, was sie jahrzehntelang versäumt haben. Selbst Christdemokraten verfochten vergangene Woche angesichts der Toten von Solingen plötzlich die Idee einer doppelten Staatsbürgerschaft, um Türken die Einbürgerung zu erleichtern.

Bundesweit standen die Flaggen auf Halbmast, als am Donnerstag in der Kölner Ditib-Moschee die Trauerfeier stattfand. Bundespräsident Richard von Weizsäcker warnte dabei vor der "Gefahr für unsere Zivilisation": Die Mörder "mögen Einzeltäter sein, doch sie kommen nicht aus dem Nichts". Tags darauf flog Bundesaußenminister Klaus Kinkel zur Beerdigung der Opfer in die Türkei, bekannte dort "Trauer und Scham". Nur der Kanzler ließ sich nirgendwo blicken.

Dabei steht die Bundesregierung unter Druck. Im Ausland wird der tüchtige Deutsche wieder und immer mehr zum häßlichen Deutschen. Auch beim türkischen Staatspräsidenten Süleyman Demirel "kam Haß hoch" (siehe Seite 30). Die türkische Zeitung Milliyet druckte ihre Solingen-Schlagzeile auf deutsch: "Es reicht".

Die Kollegen von Sabah klagten die "Hurenkinder Hitlers" an, "rassistischer Horror" ließ die italienische La Stampa am EG-Partner zweifeln, und der Londoner Daily Express schrieb, in Deutschland braue sich ein "grauslicher Cocktail aus wirtschaftlichem Niedergang und Abneigung gegen Einwanderer" zusammen.

Den rechten Terror ertragen Türken in Deutschland schon lange. Auch in Solingen hat es immer wieder fremdenfeindliche Aktionen gegeben, allein im vergangenen Jahr zwei Dutzend (siehe Seite 24). Aber meist hat es in Solingen wie in allen anderen Städten kein Aufsehen erregt, hat es nur zu kleinen Meldungen in den Lokalzeitungen gelangt, weil niemand ums Leben kam - reiner Zufall.

20 000 Mark Schaden verursachte der nächtliche Brandanschlag auf ein türkisches Lebensmittelgeschäft in Bohmte bei Osnabrück im Dezember vergangenen Jahres. Fünf Familien wohnten in dem Haus, zufällig hatten heimkehrende Hausbewohner das Feuer bemerkt.

Im Januar zündeten vermutlich Rechtsradikale ein türkisches Geschäft in Sandesneben nahe Mölln gleich an zwei Stellen an. Elf Menschen schliefen zu der Zeit im Haus, darunter zwei Kinder. Zufällig wurde der Schwager der türkischen Ladenpächterin von Geräuschen an der Tür wach, erst nach einer halben Stunde hatte die Feuerwehr den Brand unter Kontrolle.

Anfang Februar versuchten Fremdenhasser, mitten in der Nacht die Wohnung einer türkischen Familie im südbadischen Müllheim anzuzünden. Zufällig waren die Türken noch wach, das Feuer fraß  sich nur bis in den Flur.

Zehn Menschen wurden verletzt, als Unbekannte Mitte Februar ein türkisches Lebensmittelgeschäft in Ludwigshafen niederbrannten. Die Opfer hatten in den Wohnungen über dem Laden gelebt. 500 000 Mark Sachschaden.

Anfang Mai kippten Attentäter sogenannte Brandbeschleuniger wie Benzin oder Spiritus vor die Tür eines von Türken bewohnten Hauses in Stockdorf bei München. Eine Türkin, ihre 16 Jahre alte Tochter und der elf Jahre alte Sohn wurden schwer verletzt.

Die rechten Brandstifter treiben das auf die Spitze, was ihnen vermeintliche Biedermänner im Kleinen vormachen. "Ausländerfeindlichkeit und Rassismus wurden von der Politik als gesellschaftliche Randerscheinungen abgetan", rügte die EATA, die Europäische Vereinigung Türkischer Akademiker, "für die Mehrzahl der Nichtdeutschen waren diese jedoch schon seit längerem Alltagserfahrungen."

Zwar leben die meisten Deutschen mit ihren türkischen Mitbürgern in Frieden, doch immer wieder leisten sich selbst Offizielle gefährliche Entgleisungen. So stellte die Kölner Staatsanwaltschaft in der vergangenen Woche ein Ermittlungsverfahren wegen Volksverhetzung ein, reichlich unsensibel ausgerechnet drei Tage nach der Tat von Solingen. Eine Justizbeamtin _(* Am 31. Mai; nach dem Brandanschlag. ) hatte zur Karnevalszeit ein Flugblatt der rechtsradikalen Republikaner in ihrem Büro aufgehängt. Darauf der Text für ein abgewandeltes Deutschlandlied:  
" Nix verstehen, weil ich Türke, aber Kasse immer " 
" stimmt Deutschland, Deutschland über alles, zahlt sehr " 
" gut für jedes Kind! Wozu soll ich hier noch schaffen, das " 
" erledigt doch mein Glied; Deutschland, Deutschland über " 
" alles, ach, wie schön ist dieses Lied! "

Einem Anwalt stießen die Zeilen auf. "Als ich mehrere Mitarbeiter darauf aufmerksam machte, daß dadurch Ausländer verunglimpft werden", sagt der Jurist, "war die Reaktion ein albernes Rumgefeixe."

Das Flugblatt, entschied Staatsanwalt Alfhard Elfers, stachele weder "zum Haß gegen Teile der Bevölkerung auf", noch werde "zu Gewalt . . . gegen Türken" aufgerufen. Die Staatsanwaltschaft, kommentierte der Kölner Stadt-Anzeiger, habe sich auf "unappetitliche Weise" blind gezeigt. Erst nachdem sich der nordrhein-westfälische Innenminister Herbert Schnoor (SPD) eingeschaltet hatte, gab es Druck von oben: Nun prüft der Generalstaatsanwalt, ob die laxe Entscheidung seines Kölner Kollegen korrekt war.

"Diese Arroganz", sagt Gökhan Arman-Kalcek, 41, "begegnet einem überall." Der Vorsitzenden der türkischen Gemeinde in Hamburg schlug beim Einkaufen schon mal eine Verkäuferin auf die Finger, weil sie das Gemüse anfaßte: "Bei einer Deutschen hätte sie das nie getan."

Auch unter Kollegen ist Medizinerin Arman-Kalcek vor kleinen Stichen nicht sicher. Wenn sie eine wissenschaftliche Arbeit abliefert, "sagt man mir anerkennend: Für eine Türkin haben Sie das gut gemacht".

Seit fast 26 Jahren lebt sie in Deutschland. Bis heute bekommt sie immer wieder zu hören: "Sie sprechen aber gut Deutsch." Arman-Kalcek: "Darüber kann ich lange nicht mehr lachen."

Je niedriger deutsche Türken sozial rangieren, desto deutlicher spüren sie, daß das Klima rauher wird. In der Wirtschaftsflaute wird Arbeit noch unsicherer als vorher, der Türke wandelt sich vom Kollegen zum fremden Konkurrenten: "Das kannst du in den Gesichtern lesen", sagt Cömert Hayder, 33, Kraftfahrer bei der Müllabfuhr in Stuttgart. "Früher war der Unterschied zwischen den Arbeitern nicht so groß", sagt er, "jetzt sondern sich die Deutschen ab."

Hayder, Vorstandsmitglied des "Vereins Türkischer Arbeitnehmer für Stuttgart und weitere Umgebung", ist einer der modernen Deutsch-Türken aus der zweiten Generation der Einwanderer, schon viel mehr deutsch als türkisch. Mit seinem Vater kam er als elf Jahre alter Junge aus der Ost-Türkei nach Duisburg. Er hätte gern studiert, doch der Vater verbot es. Als ihm seine Eltern dann auch noch ein Mädchen zur Heirat vorschlugen, zog er aus.

Heute wohnt er mit seiner Frau und zwei Kindern im Stuttgarter Hochhausviertel Fasanenhof, mit sehr deutschem Wohnzimmer und Einbauküche. Anfangs gab es Probleme mit den Nachbarn: "Sie hatten das Vorurteil, Türken seien laut und stinken."

Zu Hause sprechen die Hayders Deutsch. Sohn Güney, 8, kann kaum noch Türkisch. Auch Vater Cömert hat mit der Tradition und dem Islam gebrochen, ißt Schwein und trinkt Alkohol.

Längst integriert ist auch Cihan Batman, 24, Betriebswirtschaftsstudent aus Stuttgart: "Ich mag Spätzle und Kebab." Vor zwei Jahren ist er deutscher Staatsangehöriger geworden. Nun versucht er, aus beiden Kulturen das beste für sich zu machen, denn er will nicht "zwischen zwei Stühlen sitzen. Besser ist es, auf zwei Stühlen zu sitzen".

Sein Freund Levent Ayvazlar, 28, angehender Betriebswirt aus Tübingen, ist nicht so sicher, ob ihnen das gelingen kann. Auch er ist Deutscher geworden.

Nach den Anschlägen von Mölln und Solingen plagt ihn nun aber der Gedanke, dieser Wechsel könnte ein Fehler gewesen sein, wenn die Rechtsextremisten noch stärker werden: "Kann ich dann noch in die Türkei zurück, oder bin ich dann ein Mensch wie die Juden früher, ohne Heimat?"

Doch eine andere Wahl hatte Ayvazlar nicht, da er in Deutschland etwas aus sich machen will: "Um in der deutschen Gesellschaft akzeptiert zu werden, muß man alle seine Wurzeln verleugnen."

Dabei werden die Deutschen auf Dauer die Türken akzeptieren müssen - für viele ein Graus. Denn die Einwanderer werden bleiben, und sie sind eine wirtschaftliche Macht geworden, allein schon mit ihrer Kaufkraft von 50 Milliarden Mark pro Jahr.

Waren sie, in den sechziger und siebziger Jahren, eine homogene Gruppe von armen, schlecht ausgebildeten Arbeitern, so werden die sozialen Unterschiede innerhalb der türkischen Gemeinden immer größer. Inzwischen führen Türken 35 000 Unternehmen in Deutschland mit zusammen 125 000 Arbeitsplätzen. Den "Kebab-Kapitalisten" (Zeit-Magazin) gehören nicht nur Imbißbuden, sondern auch umsatzstarke mittelständische und große Betriebe wie etwa die Textilkette Santex. Damit erwirtschaften sie, so schätzen Marktforscher, einen Jahresumsatz von rund 25 Milliarden Mark.

Türkische Banken haben eröffnet und türkische Reisebüros. Allein in Berlin bedienen rund 600 türkische Tante-Emma-Läden gemischt türkisch-deutsche Kundschaft.

Über 40 000 Türken haben sich Häuser oder Wohnungen gekauft, 200 000 Bausparverträge laufen auf türkische Namen. Jedes Jahr fallen die Überweisungen, die Türken in ihre ehemalige Heimat schicken, spärlicher aus.

"Die Zahlen zeigen", sagt Ersin Ugursal, Präsident der Deutsch-Türkischen Gesellschaft in Stuttgart, "daß  die Türken bleiben wollen. Doch seit 30 Jahren leben wir nebeneinander und wissen nichts voneinander." Nun will er "aufklären und aufklären", wegkommen "vom Klischee des Ali auf der Straße".

Das schaffen die meisten Türken jedoch nicht, sie reagieren nach der Logik des Ghettos: Die Ausgestoßenen schließen sich enger zusammen, versteifen sich auf eigene Werte und Traditionen; je bedrohlicher der Druck von außen wird, desto beharrlicher. "Seit den Anschlägen fange ich an", sagt der Tübinger Student Ayvazlar, "mehr über meine Wurzeln nachzudenken."

Auch jüngere Türken, beobachtet der Stuttgarter Cömert Hayder, drängt es in den letzten Jahren zu den Sitten der Väter und zum Islam zurück. Er war neulich "völlig geschockt", als ein 35 Jahre alter türkischer Nachbar seiner Frau plötzlich befahl, ein Kopftuch zu tragen. Das sei "der Einfluß der Fundamentalisten, die die Männerherrschaft nach dem Koran hochhalten".

Allerorten gründen Türken neue Moscheen, bauen gar Gotteshäuser mit Kuppel und Minarett wie etwa in Pforzheim. "Wir sind viel weniger religiös, als die meisten meinen", sagt jedoch Gökhan Arman-Kalcek. Was die draußen angefeindeten Türken in die Bethäuser locke, sei in erster Linie "das Zusammenleben rund um die Moscheen".

Die dritte Generation der Einwanderer mag sich kaum noch mit den patriarchalischen Sitten der Vorfahren anfreunden, ist mit der islamischen Religion, wenn überhaupt, nur noch lose verbunden. "Von der Türkei", sagt Ali Kul, 38, Betriebsrat bei Mercedes in Untertürkheim, "wissen die so gut wie nichts mehr; sie haben dort weder Heimat noch Freunde."

Als Kul im vergangenen Sommer mit seiner Familie zu Besuch in Anatolien war, ist seine neun Jahre alte Tochter erschrocken vor einer schwarzgekleideten Frau mit Kopftuch zurückgewichen. Sie hielt die alte Türkin, ihre Großmutter, "für eine Hexe".

Weit weniger Zulauf als Vertreter des gemäßigten Islam haben radikale Türken-Gruppen. Mit 18 000 Anhängern sind die Islam-Fundamentalisten aber immer noch, so das Bundesamt für Verfassungsschutz, der "mitgliederstärkste Bereich des Ausländerextremismus".

Die links- und rechtsextremistischen Gruppen stehen weitaus schwächer da, auch wenn sie nach dem Brandanschlag von Solingen mit Krawallen und Massenschlägereien viel Wirbel machten. Rund 4200 Anhänger haben linksextremistische Gruppen wie die militante "Dev Sol", auf 7300 Sympathisanten bringen es rechte Nationalisten und Faschisten wie die "Grauen Wölfe".

"Die Masse der Türken in Berlin ist friedlich und wird es auch bleiben", sagt Denis Olcayto, Chef des türkischen Kabelfernsehens ATT in Berlin. Nur richten sich diese Friedfertigen auf Dauer in ihrem Ghetto ein.

Mehr als zwei Drittel der 140 000 türkischen Einwanderer in der Hauptstadt drängen sich in den schlimmsten Sanierungsgebieten der Bezirke Neukölln, Kreuzberg, Schöneberg oder Wedding.

Das Ghetto, ein Kleinkosmos mit deutsch-türkischem Arrangement, wirkt als Schutzschild: "Faschos kämen hier nicht lebend wieder raus", sagt ein türkischer Verkäufer von Secondhand-Klamotten in Kreuzberg.

Schwarze Schleier und Hammelduft, Zockerstuben mit Männern beim Brettspiel, das Gebet gen Mekka in der Kreuzberger Mevlana-Moschee, die im Vorjahr wegen gestiegenen Andrangs mehrere Ventilatoren anschaffen mußte - all das wirkt pittoresk.

Aber das den Berlinern liebgewordene Türkenbild von "Kleen-Smyrna" ist schon immer ein Vexierbild gewesen, das, je nach Blickwinkel, nicht nur Folklore, sondern vor allem die soziale Misere einer Randgruppe zeigt.

Jeder vierte Berliner Jugendliche im Alter von 16 bis 20 Jahren ist einer Studie der Freien Universität zufolge Ausländer, aber nur jeder zehnte Lehrling ist Ausländer. 29,5 Prozent aller ausländischen Jugendlichen in Berlin haben keinen Hauptschulabschluß - die jungen Türken führen diese negative Statistik an.

Der erfolgreiche Türke schürt bei deutschen Fremdenhassern den Neid, der erfolglose die Verachtung. Radikales Umdenken gegen den Terror fordert deshalb Filiz Karsligil, türkische Sozialpädagogin in Solingen.

Sie will kein Mitleid angesichts der Toten von Solingen, und sie will "auch nicht geliebt werden". Ihr hängt "diese nette, karitative Haltung zum Hals raus", das sei auch nur eine "eigene Art des kleinen Rassismus".

Nach 30 Jahren in Deutschland wettert Karsligil, "wollen wir nicht mehr das Problem sein. Das Problem sind längst die Deutschen".

Denn die ganz normalen Bürger, die den jugendlichen Brandstiftern vor den Ausländerunterkünften von Hoyerswerda und Rostock Beifall klatschten, haben den Terror wieder salonfähig gemacht. "Das hat stilbildend gewirkt", meint der Hamburger Verfassungsschutz-Chef Ernst Uhrlau (SPD).

Die Mörder sind die Vollstrecker des Stammtisches.

Meist sind sie blutjung. Rund 70 Prozent aller ermittelten Tatverdächtigen waren keine 21 Jahre alt. Nur ein Bruchteil (2,5 Prozent) hatte das 30. Lebensjahr überschritten. Und sie schlagen immer häufiger zu, allein 2518mal im vergangenen Jahr (siehe Grafik).

Die wenigsten dieser Halbwüchsigen seien in rechtsextremen Parteien oder Verbänden organisiert, behaupten Verfassungsschützer. Die meisten gehörten zu den rund 6500 "dieser schwachköpfigen, unterbelichteten Skinheads", die, so Verfassungsschutz-Präsident Eckart Werthebach, als "Saufkumpane spontan ihre schrecklichen Taten begehen".

Typisch für das Abgleiten in die Glatzen-Szene seien, so Verfassungsschützer Uhrlau, wie beim mutmaßlichen Solingen-Attentäter Christian (siehe Seite 27), drei Voraussetzungen:  
* ungünstige häusliche Verhältnisse, Alkoholismus oder 
Arbeitslosigkeit der Eltern, zerrüttete Ehen; 
* mangelhafte Bildung durch niedrige Schulabschlüsse oder 
Lernschwierigkeiten; 
* begrenzte Perspektiven im Arbeitsleben, Chancen 
allenfalls in handwerklichen Berufen.

Weil Skinheads zwar die rassistischen Signale rechtsextremer Parteien aufnehmen, sich aber deren Organisation meist entziehen, sind sie für die Fahnder kaum zu kontrollieren.

Welches Haus wirre Einzeltäter oder lokale Skin-Gruppen als nächstes ins Visier nehmen, ist bei 6500 potentiellen Tätern und rund 6,5 Millionen möglichen Opfern nicht vorhersehbar. Es kann, im Sommer 1993, überall brennen.

Viele Türken wollen nicht länger als wehrlose Opfer auf den nächtlichen Molotowcocktail warten. Ismail Hakki Kosan, ausländerpolitischer Sprecher der Berliner Parlamentsfraktion Bündnis 90/Grüne, ermunterte zur Gegenwehr: "Die erste Pflicht eines jeden Menschen ist, seine Würde zu wahren. Das gilt auch für Ausländer."

"Wir müssen uns selbst verteidigen und Widerstand leisten", hieß es vergangene Woche in einer Erklärung der türkischen Studenten in Hamburg. "Wehrt euch", forderte der Schriftsteller Ralph Giordano, Überlebender des Holocaust, in der Berliner Tageszeitung, "laßt euch von deutschen Verbrechern nicht abfackeln." Daraus könne, so warnt Hakki Keskin, Vorsitzender des Bündnisses Türkischer Einwanderer, leicht "eine Art Bürgerkrieg entstehen" (siehe Seite 20).

Die Kampfparolen fanden willige Zuhörer. In Solingen drohten türkische Randalierer verängstigten Bürgern damit, sie auszuräuchern. Ein Mitglied der rechtsextremen türkischen "Grauen Wölfe" im Kampfanzug forderte vor dem niedergebrannten Haus zur Gewalt auf und prophezeite, aus der Türkei angeforderte Todeskommandos würden in Solingen erledigen, wozu die deutsche Polizei nicht in der Lage sei.

Allerorten, ob in Berlin oder im fränkischen Neuendettelsau, machten junge Türken Jagd auf deutsche Skinheads und alles, was sie dafür hielten. Die Fronten stehen hart, gute Zeiten für Gewalt und Haß.

"Wir haben tiefe Sorge und Angst", sagt die Türken-Aktivistin Gökhan Arman-Kalcek, "nicht allein um die Türken. Angst um diese ganze Gesellschaft, unsere Gesellschaft." Die alltägliche Diskriminierung und Verachtung, glaubt sie, sei die Ursache der Gewalt: "Ihr habt euch nie an uns gewöhnt, ihr habt uns nie akzeptiert."

Wie keine andere Ausländergruppe bekommen die Türken zu spüren, was die Grünen-Vordenker Daniel Cohn-Bendit und Thomas Schmid zum Umgang der Deutschen mit den Fremden formulierten: "Es war und ist nicht vorgesehen, Ausländer in Deutschland als eine im wesentlichen willkommene, nützliche und vorteilhafte neue Bevölkerungsgruppe zu betrachten."

"Katastrophale Versäumnisse" wirft der Gießener Politologe Claus Leggewie den Politikern vor, die sich seit Jahren um eine Verbesserung des ausländerrechtlichen Status der Türken herumdrücken. Abgesehen von einer kurzen Phase in den sechziger Jahren, als die deutschen Unternehmen türkische Arbeiter brauchten, wurden die Türken stets als Problem gesehen, das die Republik irgendwie loswerden müsse.

Noch immer müssen sie sich mit einem fragwürdigen Gastarbeiterstatus begnügen, entwickelt für die erste Generation, die in den sechziger Jahren kam. Vor Behörden und Gerichten werden sie behandelt, als sei es eine Gnade, daß sie bleiben dürfen - dabei leben knapp zwei Drittel der Türken schon länger als zehn Jahre im Land.

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